Hans Heilmann

male (1859–1930)

Translations

65
  • Bai tou yin 白頭吟: Auf das "Lied vom weißen Haupte" (Li Bai 李白)
    Auf den wogenden Fluten, die der Kin nach Nordosten wälzt, Siehst du den Vogel Yuen dem Vogel Yang zur Seite schwimmen. Wenn das Männchen im Schatten der Bäume des Ufers Halt macht, Spielt seine Gefährtin um ihn herum zwischen den blühenden Schilfrohren. Beide würden lieber tausendfach den Tod erleiden und ihre zarten Flügel zerreißen lassen, Als daß eines im Augenblick der Gefahr sich von dem anderen trennte! Als die schöne Ngo-Kiao, verzehrt von Reue und Eifersucht, Verbannt und einsam in dem Palais von Tschang-men hauste, wo jeden Abend ihr Gram sich verdoppelte, Da überwältigte die glühende Sehnsucht, des Gatten Liebe wieder zu erringen, ihr ganzes Sinnen und Trachten, Und sie gewann für Gold einen Dichter, der ihrem Schmerz die Beredsamkeit seiner Verse lieh. Wen nimmt ihre Treue Wunder? Aber des Mannes Herz ist unbeständig, Und der Habgier allein entsprang alles Dichten und Trachten des Sängers! Er sandte Morgengaben den Mädchen von Mo-ling Und erhielt von Wen-kiun das "Lied vom weißen Haupte". "Der Strom," so sprach sie, "kann nicht zur Quelle zurückfließen, Die vom Stengel gelöste Blüte nicht an den Baum, der sie fallen ließ, zurückkehren. Die Pflanzen haben ja kein Bewußtsein, Doch blick auf jene, die ihre Natur treibt sich anzuschmiegen. Die eine schlingt ihre Ranken da, wo der Wind sie hinweht, Die andere stirbt, wenn man sie von ihrer Stütze trennt. So haben die Pflanzen selbst eine Liebe, Die oft mehr wert als die der Menschen ist. Wirf meine Lung-fu-Matte nicht aus deinem Schlafgemach! Laß die Spinnen darüber ihre Fäden ziehen, Laß auch meine Kopfstütze da aus edlem Bernstein, Vielleicht bringen sie dir Träume, die dich an die Vergangenheit erinnern. Ist das Wasser vergossen, wer kann es wieder in den Becher füllen? Die verschmähte Gattin, wenn sie davon gegangen, ist nicht leichter zurückzuführen. Aber wann gab es je, seit Urväter Zeiten, eine Liebe ohne Undank? Bis zum heutigen Tage kündet sie nur die Mär vom Tsing-lo-turm." Auf den wogenden Fluten, die der Kin nach Nordosten wälzt, Siehst du den Vogel Yuen dem Vogel Yang zur Seite schwimmen. Wenn das Männchen im Schatten der Bäume des Ufers Halt macht, Spielt seine Gefährtin um ihn herum zwischen den blühenden Schilfrohren. Zu hohen Würden berufen hat Siang-ju die Provinz verlassen, Auf einem roten Wagen mit vier prächtigen Rossen fahrend. Rasch wächst sein Ansehen am Hofe, Der Kaiser selber ist entzückt von seinem Talent. Und die schöne Ngo-kiao belohnte den Dienst, den er ihr geleistet in ihrer Verbannung, Mit zehntausend Goldstücken, als sie die Gunst ihres Herrn zurückgewann. Siang-ju denkt nicht mehr der Zeit, da er noch arm und niedrig war, Stolz auf sein Amt und seine Reichtümer sinnt er auf neue Ehe. Jetzt will er frei unter allen Töchtern von Mo-ling wählen; Die Liebe und Treue Wen-kiuns hat er ganz vergessen. Ihr aber sind die Augen zwei Quellen von Tränen geworden, Die ohne Ende strömen auf ihr Gewand von rosiger Seide. In der fünften Nachtwache, beim dritten Hahnenschrei, Beim ersten Tagesschimmer hat sie das "Lied vom weißen Haupte" vollendet. Sie weint und seufzt, vernachlässigt ihr schönes Haar Und hebt das Haupt, als wolllte sie dem Himmel ihr tiefes Elend klagen. Festungswälle neigten erschüttert sich vor der Trauer von Ki-langs Witwe. Die steinernen Mauern selbst wurden von ihrem Leid erweicht. "Der Strom kann nimmermehr zur Quelle zurückfließen, Die vom Stengel gelöste Blüte nicht an den Baum, der sie fallen ließ, zurückkehren. Diese Schwalben von Jade, mein Haarschmuck, Zierten mein Haupt am Tage, als ich deine Gattin wurde. Heut biete ich sie dir zum Angedenken, Vergiß nicht, sie oft mit deinem seidenen Ärmel abzureiben. Wirf meine Lung-fu-Matte nicht aus deinem Schlafgemach! Laß die Spinnen darüber ihre Fäden ziehn, Laß auch meine Kopfstütze da aus edlem Bernstein, Vielleicht bringen sie dir Träume, die dich an die Vergangenheit erinnern. Den leichten Federmantel, den ich dir einst geschenkt, Ich bitte dich, leg ihn nie um andre Schultern als die deinen. Den Zauberspiegel, den ich besaß, Den Spiegel, in dem das Herz erscheint, wie das Antlitz in der tiefen Wasserfläche eines Brunnens, Du magst ihn behalten und deine neue Gattin darin betrachten. Er soll euch später dienen, einander wohl zu erkennen. Ist das Wasser vergossen, umsonst versuchst du, es wieder im Becher zu sammeln; Ist Wen-Kiun einmal gegangen, umsonst ist all dein Bemühn, sie wieder zurückzurufen!"

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 38-43.
  • Bei ge xing 悲歌行: Das Lied vom Kummer (Li Bai 李白)
    Der Herr des Hauses hat Wein, aber füllt noch nicht die Becher: Wartet bis ich das Lied vom Kummer gesungen habe! Wenn der Kummer kommt, wenn mein Gesang, mein Lachen erstirbt, Dann kann niemand ermessen, was meine Seele bewegt. (Peï laï ho! Peï laï ho!) Herr, du besitzest viel köstlichen Wein, Ich habe meine lange Laute. Die Laute schlagen und Wein trinken, das sind zwei Dinge, die trefflich zu einander passen. Ein Becher Wein zur rechten Zeit ist tausend Unzen Goldes wert. (Peï laï ho! Peï laï ho!) Wenn auch der Himmel ewig ist und die Erde noch lange fest steht, Wie lange werden wir uns des Goldes und des Jade erfreuen können? Hundert Jahre, das ist die Grenze der kühnsten Hoffnungen. Leben und dann sterben, das ist das einzige, wessen der Mensch sicher ist. (Peï laï ho! Peï laï ho!) Hört ihr ihn da unten, im Mondenschein, hört ihr den Affen, der da zusammengekauert sitzt und heult, einsam unter Gräbern? Und nun füllt mir den Becher, nun ist es Zeit, ihn mit einem Zug zu leeren! (Peï laï ho! Peï laï ho!)

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 54-55.
  • Bei ge xing 悲歌行: Der Tanz der Unsterblichen (Li Bai 李白)
    Zu meiner Flöte von Jade habe ich ein Lied den Menschen gesungen; aber die Menschen haben mich nicht verstanden. Da habe ich meine Flöte zum Himmel erhoben und habe mein Lied den Unsterblichen gesungen. Die Unsterblichen hat es erfreut; sie haben zu tanzen begonnen auf den erglühenden Wolken; Und nun verstehen mich auch die Menschen, wenn ich singe und mich begleite auf meiner Flöte von Jade.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 56.
    Excerpt.
  • Bing che xing 兵車行: Der Auszug der Krieger (Du Fu 杜甫)
    Räder knirschen, Pferde schnaufen; Soldaten marschieren mit Pfeil und Bogen. Väter und Mütter, Frauen und Kinder geben ihnen das Geleit, wirr durch die Reihen laufend. Dicht wirbelt der Staub, sie kommen zur Hien-nang-Brücke und sehen sie nicht; Sie heften sich an die Kleider der scheidenden, wie um sie zurückzuhalten, sie zittern und weinen, Und ihr Stöhnen und Klagen erhebt sich bis zu den Wolken. Die Wanderer, denen ihr Zug begegnet, treten zur Seite des Wegs und befragen die Krieger. Die haben nur eine Antwort: wir müssen marschieren, immer marschieren! Manche von ihnen waren noch Knaben, als sie zur Nordgrenze zogen, Jetzt, da sie Männer sind, werden sie Krieg an der Westgrenze führen. Als sie die Heimat verließen, drückte der Helm ihre bartlosen Häupter, Grauhaarig kehrten sie wieder, doch nur um aufs neue zu scheiden. Unersättlich in seinen Eroberungsgelüsten Hört der Kaiser nicht den Schrei seines Volkes. Umsonst nahmen wackere Frauen Pflug und Hacke zur Hand, Überall haben Dornen und Gestrüpp von den verwahrlosten Feldern Besitz ergriffen. Und der Krieg wütet immer, und das Schlachten endet nimmer, Und das Leben der Menschen gilt nicht mehr als das Leben der Hühner und Hunde. Ehrwürdige Greise befinden sich unter den Fragern, Und dennoch scheuen die Krieger sich nicht, ihrer Empörung in heftigen Worten Luft zu machen. Nicht einmal der Winter, sagen sie, bringt uns kurze Waffenruhe, Und hier von unseren Familien treibt man Steuern ein; doch diese Steuer, wovon sie zahlen? Sind wir nicht schon dahin gekommen, die Geburt eines Sohnes für ein Unglück zu halten Und uns zu freuen, wenn eine Tochter das Licht der Welt erblickt? Das Mädchen kann doch einen Gatten finden unter den Nachbarn, Dem Knaben ist ein früher Tod beschieden, er geht zugrunde wie das Unkraut, das der Pflug zerstört und auch begräbt. O Kaiser, sähest du die Ufer des blauen Meeres von Ku-ku-noor, Wo die Totengebeine bleichen, die seine fromme Hand gesammelt, Wo die Geister der jüngst Gefallenen den Geistern längst begrabener Toten mit ihren Klagen die heilige Ruhe stören. Trüb ist der Tag und eisig der Regen an jenem grausigen Gestade, und Ächzen und Wimmern hörst du von allen Seiten.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 58-60.
  • Cai lian qu "Ruo ye xi bang cai lian nü" 采蓮曲“若耶溪傍采蓮女”: An den Ufern des Jo-yeh (Li Bai 李白)
    Am Uferrand des Jo-neh pflücken die jungen Mädchen die Lotosblüten. Büsche von Blumen und Blättern trennen sie; lachend, ohne einander zu sehen, rufen sie sich muntere Neckereien zu. Das strahlende Sonnenlicht spiegelt in der Wassertiefe ihren zierlichen Putz. Der Wind hebt das zarte Gewebe ihrer Ärmel und nimmt den Duft ihrer Wohlgerüche mit. Doch was sind das für schöne Jünglinge am Ufer da oben? Zu drei und zu fünf erscheinen sie zwischen den Trauerweiden. Plötzlich wiehert das Pferd des einen und geht durch, mit den Hufen die gefallenen Blüten zerstampfend. Ein holdes Kind starrt ihm nach, voll Angst, und die Erregung ihres Herzens durchbricht verräterisch die erkünstelte Fassung.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 33f.
  • Chu ye su shi tou yi 除夜宿石頭驛: Die Neujahrsnacht in der Herberge (Dai Shulun 戴叔倫)
    Kein Mensch, der an mir Anteil nähme, in tiefem Fremdenhause, nicht einer, mit dem ich ein paar Worte wechseln könnte! Eine trübe Lampe ist mein einziger Genoß. In dieser Nacht will sich das Jahr vollenden! Weit bin ich gewandert und noch immer der Heimat fern. Allein mit meinem Kummer blick ich zurück über mein ganzes Leben. Ist es nicht lächerlich und traurig zugleich, daß dieser elende Körper nicht Ruge halten kann! Mein Antlitz ist vergrämt, das Haar an der Schläfe ergraut, Und morgen beginnt das neue Jahr, so soll ich den neuen Frühling begrüßen! Viele Jahre sah ich schon vergehen, doch Zufriedenheit ließen sie mir nicht zurück: Was soll ich von diesem erwarten, das nun kommt? Von den alten Freunden meiner Jugend und meiner Studien Haben einige ihr Glück gemacht, aber wie viele raffte der Tod hinweg. Von nun ab sei die Ruhe all meiner Wünsche Ziel; Ich will auf die eitlen Mühen verzichten, um wenigstens ein hohes Alter zu erreichen. Die Schönheit des Frühlings steht erhaben über der Zeit; sie ist und wird immer dieselbe sein. Ich will sie in meinem Häuschen genießen so gut wie der Kaiser in seinem Palast.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 91f.
  • Chun ri gui shan ji meng hao ran 春日歸山寄孟浩然: Der Bergtempel im Frühling (Li Bai 李白)
    Mit dem Band des Pilgers verlasse ich die staubige Ebene, Am grünen Berge wandre ich zum Brahminentempel. Hier lenkt die goldene Richtschnur den Schritt zu geistlicher Empfängnis, Das heilige Boot trägt den Menschen durch den Strom des irdischen Wahns. Bäume am Eingang ragen empor zu sich verjüngenden Tempelsäulen, Blumen am Abhang blicken herab auf das Flußtal. Hoch steht die Pagode über dem Mond, der aus dem See im Osten auftaucht, Weit dehnt das Kloster sich hinter den Nebeln des Stromes. Die Feuerglut der Abendröte flutet aus allen drei Himmeln herab, Der Klang der Glocken eint das Rauschen der Seen und Ströme zu einer Harmonie, Die Lotosblätter sind mit Tauperlen benetzt, Die Fichten im Waldesdickicht regen keinen Zweig. Die Vögel schweigen, als wollten sie lauschen Buddhas Gesetz; Der Skorpion und der Orion beschützen die heilige Stille. Ach, tönte mein Lied wie der rauschende Strom, Wie Pe-yas wundersames Lautenspiel!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 52f.
  • Chun ri xing 春日行: Frühlings Anfang (Li Bai 李白)
    In dem unendlich großen Palast, dessen Türme in den blauen Himmel ragen, Um dessen glänzende Säulen goldene Drachen sich ringeln, Begrüßen hinter den Vorhängen, die nun emporgezogen werden, schöne junge Mädchen die lachende Sonne Und lassen mit ihren zarten Händen die Saiten und tönende Steine erklingen. Die Melodie dringt im Frühlingswinde bis zu den Ohren des Kaisers, Es ist die Weise des Liedes: "Genieße den Augenblick!" Man geht ins Freie, man fährt hinaus auf den weiten See, nach den grünenden Inseln, Das Wasser schwillt und hüpft an den Schnäbeln der raschen Barken empor, die mit bunten Zelten überdacht sind. Dreitausend junge Mädchen von bezaubernder Schönheit bringen ihrem hohen Gebieter die Huldigung ihrer fröhlichen Spiele dar, Sie schlagen Glocken und Trommeln Und machen ein Getöse, als sollte der Palast einstürzen. Auch das Volk draußen ist fröhlich, es tanzt und singt die Friedenshymne. Der Herr aber betrachtet sein Werk: "Meine Ruhe schafft das Glück der Gesamtheit." Die sechsunddreißig unsterblichen Kaiser nahen ihm und winken ihn zu sich hinauf, Sie fliegen um ihn durch die Luft, ihre Wolkenwagen herniederlenkend. Aber der Kaiser geht nicht von uns, Er verläßt nicht seine glückliche Hauptstadt, Und könnte doch wie Hoang-ti Ohne uns zu den himmlischen Wohnungen emporsteigen! Ich aber, sein demütiger Diener, ich rufe: "Mögest du leben so lange wie der Nan-chan-Berg Und ewig lebe der Ruhm deines großen Namens!"

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 31-33.
  • Chun ri zui qi yan zhi 春日醉起言志: Ein Frühlingstag (Li Bai 李白)
    Wenn das Leben ein Traum ist, Warum sich mühen und plagen! Ich, ich berausche mich den ganzen Tag Und wenn ich zu schwanken beginne, dann sink' ich vor der Tür meines Hauses zum Schlafe nieder. Wieder erwachend schlag ich die Augen auf. Ein Vogel singt in den blühenden Zweigen. Ich frage ihn, in welcher Jahreszeit wir leben, Er sagt mir, in der Zeit, da der Hauch des Frühlings den Vogel singen macht. Ich bin erschüttert, Seufzer schwellen mir die Brust. Doch wieder gieß ich mir den Becher voll. Mit lauter Stimme sing ich, bis der Mond erglänzt. Und wenn mein Gesang erstirbt, hab ich auch wieder die Empfindung für die Welt um mich verloren.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 28f.
  • Chun ye luo cheng wen di 春夜洛城聞笛: Die geheimnisvolle Flöte (Li Bai 李白)
    Eines Abends trug mir der Wind durch den Duft der Blätter und Blumen den Ton einer fernen Flöte zu. Da hab ich einen Weidenzweig abgeschnitten und mit einem Liede geantwortet. Seitdem hören nachts, wenn alles schläft, die Vögel ein Gespräch in ihrer Sprache.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 31.
  • Chun ye xi yu 春夜喜雨: Der Frühlingsregen (Du Fu 杜甫)
    O der liebe linde Frühlingsregen, er weiß so gut, wann man seiner bedarf, Und kommt zu rechter Zeit, das neue Leben der Natur zu entbinden! Er hat die Nacht gewählt, um leise mit günstigem Winde zu nahen, Und alles still und sanft mit feinem Tau zu netzen. Düstre Wolken lagen gestern abend über dem Weg, der zu meiner Wohnung führt, Nur die Feuer der Stromkähne blinkten wie lichte Punkte durch tiefe Dunkelheit. Heut früh lachen muntere Farben uns weit und breit im Gefilde entgegen, Und in köstlicher Frische leuchten reizende Blumen wie eine bunte Stickerei aus den kaiserlichen Gärten hervor.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 68-69.
  • Dui jiu xing "Song zi qi jin hua" 對酒行 “松子棲金華”: Beim vollen Becher (Li Bai 李白)
    Song-tseu hat sich auf dem Kin-hoa in Flammen aufgelöst, Ngan-ki ist mit seinem Erdenleib bis zum Pong-lai emporgestiegen; Sie gewannen Unsterblichkeit in der Urväter Zeiten, Sie stiegen himmelempor, nun wohl, aber wo sind sie geblieben? Das Leben vergeht wie ein Blitzstrahl, Dessen Glanz kaum so lange währt, daß man ihn sehen kann. Wenn die Erde und der Himmel ewig unbeweglich stehen, Wie rasch fliegt die wechselnde Zeit über das Antlitz des Menschen. O du, der du beim vollen Becher sitzest und nicht trinkst, O sage mir, auf wen wartest du noch?

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 27f.
  • Gong zhong xing le ci ba shou (5) "Xiu hu xiang feng nuan" 宮中行樂詞八首(其五)“繡戶香風暖”: Des Palais von Tschao-yang (Li Bai 李白)
    Ein lauer Wind dringt düfteschwer tief in den Palast, Wo die Vorhänge aufleuchten unter den fröhlichen Strahlen der Morgenröte. Die Blumen des Palastes entfalten ihre Kelche und überbieten sich an Farbenpracht, wenn sie der Sonne zulächeln, Und die Wasserpflanzen bringen dem Frühling die geheimnisvolle Huldigung ihrer aufkeimenden Blüte dar. In den grünenden Bäumen hört man die kleinen Vögel singen, In dem himmelblauen Pavillon sieht man die Frauen des Kaisers tanzen. In dem Monat, da die Birn- und Pflaumenblüte prangt im Garten von Tschao-yang, Herrscht hinter den gestickten Seidenvorhängen allein die selige Trunkenheit der Liebe.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 26.
    [lines 9-16]
  • Gong zhong xing le ci ba shou (5) "Xiu hu xiang feng nuan" 宮中行樂詞八首(其五)“繡戶香風暖”: Das Palais von Tschao-yang (Li Bai 李白)
    Ein lauer Wind dringt drüfteschwer tief in den Palast, Wo die Vorhänge aufleuchten unter den fröhlichen Strahlen der Morgenröte. Die Blumen des Palastes entfalten ihre Kelche und überbieten sich an Farbenpracht, wenn sie der Sonne zulächeln, Und die Wasserpflanzen bringen dem Frühling die gehimnissvolle Huldigung ihrer aufkeimenden Blüte dar. In den grünenden bäumen hört man die kleinen Vögel singen, In dem himmelblauen Pavillon sieht man die Frauen des Kaisers tanzen. In dem Monat, da die Birn- und Pflaumenblüte prangt im Garten von Tschao-yang, Herrscht hinter den gestickten Seidenvorhängen allein die selige Trunkenheit der Liebe.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 26.
  • Gong zhong xing le ci ba shou (7) "Han xue mei zhong jin" 宮中行樂詞八首(其七)“寒雪梅中盡”: Das Palais von Tschao-yang (Li Bai 李白)
    Der Schnee lastet nicht mehr auf den Zweigen des Aprikosenbaumes, Der Frühling atmet wieder auf zwischen den Ästen der Weide. Die Liebesklage des Vogels Ying berauscht die Sinne. Die Schwalbe ist wieder da und flattert zwitschernd am Dachrande. Das ist die Zeit der langen Tage, die Zeit, da die Sonne frohen Tafelrunden leuchtet, Die Zeit, da neuerblühte Blumen und reizend geschmückte Tänzerinnen im Wetteifer eine der andren Schönheit erhöhen. Wenn der Abend kommt, entfernt man die Leibwächter mit den glänzenden Kürassen, Und Freuden aller Art erfüllen die Nacht bis zum Morgen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 25f.
  • Guan cang shu 官倉鼠: Die dicke Ratte (Cao Ye 曹鄴)
    Dicke Ratte, Riesenratte, friß nicht all mein Korn, grausam gefräßiges Tier. Seit drei Jahren dulde ich die wilde Gier deiner spitzen Zähne und habe umsonst versucht, sie zu beschwichtigen. Doch am Ende gehe ich auf und davon, ich entfliehe dir und baue mir ein Haus in einem fernen Lande, In einem fernen glücklichen Lande, wo die Seelenqualen nicht ohne Ende nagen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 16.
  • Guo gu ren zhuang 過故人莊: Landidyll (Meng Haoran 孟浩然)
    Ein alter Freund läd't mich ein zu Huhn und Reis Und bittet mich, ihn in seinem Landhaus zu besuchen. Mächtige Bäume umgeben sein Dorf mit grünem Waldessaum, Am Horizonte heben die Spitzen der blauen Berge sich klar von dem leuchtenden Himmel ab. Das Mahl ist bereitet in offener Halle, frei schweift der Blick über den Garten. Wir gießen uns zu trinken ein, wir sprechen vom Hanf und vom Maulbeerbaum. Wenn es Herbst wird, wenn die Chrysanthemen blühn, Dann will ich wieder kommen und mich mit dir an ihrem Anblick freun.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 18f.
  • Ji li shi'er bai er shi yun 寄李十二白二十韻: An Li-Tai-Pe (Du Fu 杜甫)
    Man nennt dich Ti-Sie-Jen – Unerschöpflicher Tropfenfall – und du bist den Himmlischen gleich; Das Zepter des Kaisers, das Schwert des Kriegers sind minder gewaltig als dein Pinsel! Der klare Sommerhimmel strahlt in ungetrübter Heiterkeit; aber plötzlich jagt der Sturm Wolken herauf und Regentropfen fallen. So läßt der Hauch deines Genies auf das blütenweiße Papier die schwarzen Zeichen regnen; das sind die Tränen deiner Seele, die still aus deinem Pinsel fließen. Und wenn das Lied vollendet ist, hört man um dich herum das bewundernde Murmeln unsterblicher Geister.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 56-57.
    Excerpt only.
  • Jiang jin jiu 將進酒: Trinklied (Li Bai 李白)
    Herr, siehst du die Fluten des gelben Stromes? Sie kommen vom Himmel und rauschen zum Meere, ohne je wiederzukehren. Herr, siehst du in die Spiegel in deinem Schlosse Und seufzest du nicht über deine grauen Haare? Am Morgen glänzten sie wie schwarze Seide, Am Abend sind sie schon mit Schnee vermengt. Wer das Leben recht versteht, genieße den Augenblick Und lasse den Becher nicht fallen, wenn der Vollmond scheint. Was der Himmel uns gibt, das will er, sollen wir nützen. Tausend Goldstücke, die man verstreut, können sich wieder vereinen. So bereitet den Hammel, zerteilt das Rind – wir wollen frühlich sein. Heut gilt es, auf einen Sitz dreihundert Becher zu leeren! Glockenspiel und Trommelklang, köstliche Gerichte sind entbehrliche Dinge. Uns frommt ein langer Rausch, so lang, daß er kein Ende nimmt. Die Gelehrten und Weisen der Vorzeit sind gestorben und vergessen, Wahrlich, nur den Trinkern winkt die Unsterblichkeit!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 44f.
  • Jiang shang yin 江上吟: Zu Schiff (Li Bai 李白)
    Ein leichtes Schiff mit zarten Rudern, Junge Flötenspielerinnen auf den Bänken mit Instrumenten aus Gold und Jade, Herrlicher Wein in immer neu gefüllten Krügen – Die Freude führen wir mit uns und lassen uns treiben von den Fluten. Die Unsterblichen harren mein, auf ihren gelben Störchen durch die Luft reitend, Während ich unbekümmert und ruhevoll durch Scharen weißer Möwen dahinschwimme. Die erhabenen Dichtungen Kiu-yuens bleiben unvergänglich wie ein Monument, das bis zu den Sternen sich erhebt, Doch wohin sind die königlichen Burgen und Paläste geschwunden, die sich einst auf diesen wüsten Hügeln türmten? Wenn der Rausch mich begeistert, senke ich meinen Pinsel und erschüttere mit meinem Lied die heiligen fünf Berge. Ich bin froh, ich bin stolz, ich verlache alle Herrlichkeiten der Erde. Macht, Reichtum und Ehre – wenn ich euch jemals achte und eurer Beständigkeit traue, Dann wird man den gelben Strom landaufwärts fließen sehen!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 24f.
  • Jin ling san shou (3) "Liu dai xing wang guo" 金陵三首(其三)“六代興亡國”: Ode auf Nanking (Li Bai 李白)
    Die du sechs Königreiche nach einander werden und vergehen sahst, Ich will drei Becher leeren und dir diese Verse widmen. Deine Gärten sind nicht so groß wie die im Lande Thsin, Aber deine Höhen sind schön wie das Bergland von Lo-yang. Hier stand ehemals die Burg der alten Könige von U – in Frieden blüht das Gras auf ihren Ruinen; Dort das gewaltige Schloß der Thsin-Kaiser, einst voll Glanz und herrischer Macht. Alles das ist für immer dahin, alles vergeht und verschwindet im ewigen Fluß der Zeit, die Taten und die Menschen, Wie die endlos flutenden Wellen des Yang-tse-kiang, die sich im Meer verlieren.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 34.
  • Jing ye si 靜夜思: In der Herberge (Li Bai 李白)
    Vor mein Bett wirft der Mond einen grellen Schein. Ich wähne, es ist Frühreif, was am Boden glänzt; Hebe das Haupt – und schau in den leuchtenden Mond, Senke das Haupt – und denk an mein Heimatland....

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 30.
  • Kou hao wu wang mei ren ban zui 口號吳王美人半醉: Liebestrunken (Li Bai 李白)
    Am Kaiserpalast regt leise der Wind die duftigen Lotosblüten. Auf der höchsten Terrasse von Ku-Su siehst du den König von U behaglich ausgestreckt auf üppigem Ruhebett. Vor ihm tanzt Si-Chy, die Schöhnheit selbst, mit unvergleichlicher Anmut, mit zarten, schwebenden Bewegungen. Sie lächelt, denn nun umfängt auch sie wollüstiges Ermatten, – und schmachtend lehnt sie sich an den weißen Jaderand des königlichen Ruhebettes.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 49.
  • Lu shui qu 淥水曲: An der Flußmündung (Li Bai 李白)
    Kleine Wellen glitzern im Mondschein, der das lichte Grün des Wassers in Silber verwandelt; es ist, als eilten tausende von Fischen mit der Flut nach dem See. Ich bin allein im Kahn, der langsam mit der Strömung des Flusses dahingleitet, hin und wieder rege ich leicht die Ruder; die Nacht und die Einsamkeit erfüllen mein Herz mit Traurigkeit. Doch hier seh ich Lotosblumen rings um mich herum, mit Blüten wie dicke Perlen; ich streife sie liebkostend mit den Rudern. Das Rauschen der Blätter raunt wie Liebesgeflüster, die Blumen neigen die weißen Köpfchen, als sprächen sie zu mir. Sie wollen mich trösten; doch als ich sie sah, da hatt' ich auch meine Traurigkeit schon vergessen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 51f.
  • Mei pi xing 渼陂行: Auf dem Mei-Pei-See (Du Fu 杜甫)
    Tsin-Tsan und sein Bruder lieben die erhabenen Schauspiele der Natur. Sie haben mich mitgenommen zu einer Fahrt über den Mei-Pei-See. Der Himmel war bedeckt, düstere Wolken verdunkelten die Erde, das Licht der Sonne erstarb; Der Wind erhob sich, und die schäumenden Wellen, die in der Ferne glitzerten, schienen kostbare Edelsteine zu wälzen. Unsere Barke stieß vom Ufer und schwamm auf dem wogenden Kristall. Ein überwältigendes Bild; es wollte mir zum Liede werden, aber meine Gedanken waren voll Trauer und schmerzlich wachsender Sorge. Wer bliebe ruhig mitten in der Gefahr! Dieser tückische Wind, diese stürmische Flut, wie sollten wir ihnen entrinnen! Nun läßt der Patron das seidene Segel entfalten, Nun blicken froh die Schiffer der letzten fliehenden Wolke nach. Mit wildem Kreischen flattern die Wasservögel auf, von dem Gesang der Ruderer erschreckt, Saitenspiel und Flöten werden laut, ihre harmonischen Klänge scheinen vom Himmel zu kommen. Der Lotos breitet seine reinen Blüten aus, die Wasserkastanie ihre Blätter, glänzend, als hätte der Regen sie gewaschen. Ich versuche, die Tiefe des Sees zu messen, aber das Senkblei erreicht nicht den Boden. Mein Blick verliert sich in der unergründlichen Tiefe; auf der einen Seite erscheint sie mir klar, leer und unendlich; Auf der anderen dunkel und schrecklich; hier wirft der Tschong-nan seine Schatten, weiter als mein Auge sie verfolgen kann. Auf der Mittagsseite erhebt sich der Spitzberg über der lichten Flut Und sein Spiegelbild taucht zitternd in die Wässer, die es verdüstert. Aber die Sonne sinkt; mit leichtem Rauschen gleitet das Schiff nach der hoch in die Wolken ragenden Pagode hin Und bald erscheint der Mond, der sich nun auch im Wasser spiegeln will. Da nimmt der schwarze Drache perlenspeiend seinen Lauf, Da schlägt der Herr der Wässer seine Trommel und ruft seine Meerwunder. Die Wassergenien kommen aus der Tiefe herauf; sie tanzen am Ufer, ihr Gesang dringt an unser Ohr, Und in der Ferne gewahren wir einen Augenblick den glänzenden Bänderschmuck ihrer Lauten. Kurz vor dem Hafen werden wir nochmals vom Sturme überrascht. Ich sinke in tiefe Träumerei. Wie unerforschlich bleibt uns der Wille der Geister. Jugend und Manneskraft, wie lange dauern sie, und was vermögen wir gegen das nahende Alter? Und in der Vergangenheit – welch ein flüchtiger Wechsel von Freud und Leid!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 69-71.
  • Not determined 未定: Der Kaiser (Du Fu 杜甫)
    Auf dem Thron von neuem Golde sitzt der Sohn des Himmels, strahlend von Gold und Edelstein inmitten der Mandarinen, eine Sonne, umgeben von Sternen. Die Mandarinen sprechen von ernsten Dingen, aber die Gedanken des Kaisers sind durch das offene Fenster hinausgeflogen. In ihrem Pavillon von Porzellan, wie eine vollerblühte Blume inmitten der Blätter sitzt die Kaiserin unter ihren Frauen. Sie denkt, daß ihr Geliebter zu lange im Rat verweile und mit Ungeduld bewegt sie den Fächer. Ein Hauch von Wohlgerüchen liebkost das Antlitz des Kaisers. "Meine Geliebte weht mir mit dem Fächer den Duft ihres Mundes zu." Und der Kaiser strahlend von Gold und Edelgestein erhebt sich und schreitet nach dem Pavillon von Porzellan, die Mandarinen zurücklassend, die in Schweigen und Staunen einander ansehen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 57f.
  • Not determined 未定: Das Haus im Herzen (Du Fu 杜甫)
    Die grausamen Flammen haben ganz das Haus verschlungen, in dem ich geboren wurde. Da bin ich in eine goldene Barke gestiegen, um meinen Kummer zu zerstreuen. Ich habe meine geschnitzte Flöte genommen und ein Lied an den Mond gesungen, doch den Mond habe ich damit traurig gemacht, daß er sein Antlitz mit einer Wolke verhüllte. Nun bin ich wieder in die Berge gegangen; aber sie gaben mir keinen Trost. Es schien mir, als wären alle Freuden meiner Kindheit in dem Hause mit verbrannt. Ich sehnte mich nach dem Tod ... schon stand ich am Meer und neigte mich über das Ufer. Da kam ein Weib in einer Barke vorübergefahren, und ich glaubte den Mond zu sehen, der sich im Wasser spiegelt. Wenn sie wollte, würde ich mir ein Haus in ihrem Herzen wieder aufbaun!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 75.
  • Not determined 未定: Der Fischer (Li Bai 李白)
    Die Erde hat den Schnee getrunken und schon leuchten die Blüten des Pflaumenbaumes. Die Blätter der Weide gleichen neuem Gold, und der See liegt da wie geschmolzenes Silber. Nun kommen Schmetterlinge, die Flügel wie mit Schwefelstaub gepudert und senken ihre sammetartigen Köpfe in die Blumenkelche. Aus dem Kahn, der still im Wasser steht, wirft der Fischer sein Netz, das zerbricht den glatten Wasserspiegel. Er denkt an sie, die er daheimgelassen hat, wie ein Schwalbenweibchen im Nest, an sie, die er bald wiedersehen wird, Nahrung heimbringend wie das Schwalbenmännchen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 51.
  • Not determined 未定: Der Porzellan-Pavillon (Li Bai 李白)
    Mitten in einem kleinen künstlichen See erhebt sich ein Pavillon aus grünem und weißem Porzellan; man gelangt zu ihm auf einer Brücke von Jade, die sich wölbt wie der Rücken eines Tigers. In diesem Pavillon sitzen die Freunde, in lichte Gewänder gekleidet beim Wein. Sie plaudern lustig mit einander oder sie schreiben Verse nieder; dazu stoßen sie ihre Hauptbedeckungen zurück und streifen ein wenig die Ärmel auf. Und in dem See, in dem die kleine Brücke umgekehrt gleich einem Halbmond von Jade erscheint, trinken die Freunde, in lichte Gewänder gekleidet, auf dem Kopfe stehend, in einem Pavillon von Porzellan.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 53f.
  • Not determined 未定: Die rote Rose. Klage der einsamen Gattin (Li Bai 李白)
    Wie ich traurig über meiner Stickerei am Fenster saß, stach ich mit der Nadel mich in den Daumen und die weiße Rose, die ich stickte, ist eine rote Rose geworden. Da hab' ich an ihn denken müssen, der in weiter Ferne weilt, um die Rebellen zu bekämpfen, und ich dachte, wie auch er sein Blut vergießt und Tränen stürzten mir aus den Augen. Auf einmal glaubte ich den Hufschlag seines Pferdes zu hören und sprang fröhlich empor; doch es war mein Herz, das so laut und heftig klopfte. Ich setzte mich wieder zu meiner Arbeit ans Fenster und meine Tränen sticken Perlen in den Stoff im Rahmen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 50.
  • Not determined 未定: Der Kormoran (Su Shi 蘇軾)
    Einsam und unbeweglich steht und sinnt der Kormoran am herbstlichen Ufer des Flusses, und sein rundes Auge folgt dem Lauf der Wässer. Manchmal naht ein Mensch, dann entfernt sich der Kormoran, langsam, das Haupt wiegend; Aber hinter den Blättern lugt er dem Störenden nach, um, wenn er vorbeigegangen, wieder in das einförmige Wogen des Stromes zu schauen. Und in der Nacht, wenn der Mond auf den Wellen erglänzt, sinnt der Kormoran, auf einem Fuß im Wasser stehend. So verfolgt der Mensch, der eine große Liebe im Herzen hat, immer das Auf- und Abwogen eines und desselben Gedankens.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 93-94.
    in: Zoozmann, Richard. Amors Possenspiel. Der "Unartigen Musenkinder" Neue Folge. Liebesgedichte und Schelmenstücke aus allen Zeiten und Zonen. Leipzig: Hesse & Becker Verlag, 1920. p. 20.
  • Not determined 未定: Das Blumenschiff (Su Shi 蘇軾)
    Ein blaues Nebelwölkchen umhüllt es wie ein Schleier und die schäumende Brandung umkreist es wie eine Reihe weißer Zähne. Die Sonne steigt langsam in die Höh, sie lächelt dem Meere zu, und das Meer erglänzt wie goldgestickte Seide. Fische kommen aus der Tiefe herauf, sie lassen atmend Luftbläschen wie glänzende Perlen an die Oberfläche schweben, und die klaren Fluten wiegen leise das Blumenschiff. Mein Herz wallt schmerzlich auf, denn ach, es ist so fern, das Schiff, und ein Seidenstrang hält es am Ufer zurück. Dort blühen die prächtigsten Blumen, dort ist die Luft voller Düfte, dort wohnt der Frühling! Ich will ein Lied singen und Takt mit meinem Fächer dazu schlagen; die erste Schwalbe, die ich sehe, will ich bitten, es hinüber zu tragen; Und eine Blume will ich ins Meer werfen, die der Wind bis zum Schiffe treiben wird. Die kleine Blume, die leblose, tanzt munter auf den Wellen, doch ich, ich singe, das Herz voll Sehnsucht und Betrübnis.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 95-96.
  • Not determined 未定: Des Landmanns Klage (Su Shi 蘇軾)
    Der Schnee hat sich leise über die Erde herabgesenkt wie eine Wolke von weißen Schmetterlingen. Der Landmann legt den Spaten nieder; ihm ist, als schnürten unsichtbare Fäden ihm das Herz zusammen. Er trauert, denn die Erde war seine Freundin, und als er sich über sie neigte, um ihr die hoffnungsvolle Saat zu vertrauen, da gab er ihr auch seine heimlichen Gedanken mit; Und später, als die Saat emporwuchs, fand er seine Gedanken in voller Blüte wieder. Nun hat sich die Erde mit einem Kleid von eisigem Schnee verhüllt.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 94-95.
  • Not determined 未定: Die drei Frauen des Mandarins (Cao Ye 曹鄴)
    Die rechtmäßige Gattin. Es ist Wein im Becher, und Schwalbennester sind in der Schüssel. Seit den ältesten Zeiten haben die Mandarine stets ihre rechtmäßigen Frauen in Ehren gehalten. Das Kebsweib. Es ist Wein im Becher, und eine fette Gans in der Schüssel. Wenn die Frau des Mandarinen ihrem Manne keine Kinder schenkt, nimmt er sich ein Kebsweib. Die Dienerin. Es ist Wein im Becher, und allerlei Süßigkeiten sind in der Schüssel. Ob der Mandarin eine Frau oder ein Kebsweib hat, kommt auf eins heraus; aber jede Nacht will er ein neues Mädel haben. Der Mandarin. Es ist kein Wein mehr im Becher, und in der Schüssel ist nur noch vertrockneter Lauch. Vorwärts, vorwärts, ihr Klatschhasen, macht euch nicht lustig über einen armen Alten!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 16f.
  • Qiang cun (1) "Zheng rong chi yun xi" 羌村(其一)“崢嶸赤雲西”: Im Dorfe Kiang, I. (Du Fu 杜甫)
    Die Wolken türmen im Westen purpurne Berge auf. Die Sonne sinkt und naht bereits dem Horizont. Am Zauntor eines ländlichen Besitztums lärmen die Spatzen und erfüllen die Luft mit ihrem Gezwitscher; Hier bin ich endlich am Ziel – ich kehre heim wie ein Fremdling und habe wohl tausend Meilen hinter mir. Meine Frau und meine Kinder sind sprachlos vor Überraschung. Dann wischen sie sich die Tränen der Freude aus den Augen. Wen der Wirbelwind erfaßt und hinwegführt in dieser Zeit der Bürgerkriege, Der kann von Glück sagen, wenn er sich lebend wiederfindet. Neugierig kommen die Dorfbewohner in Haufen herbeigerannt und postieren sich in langer Reihe um den Zaun, Die Bewunderung macht sie stumm, nur manchmal wird ein tiefer Seufzer laut. Drinnen brennt die Lampe die ganze Nacht hindurch. Ich und die Meinen, wir blicken uns an und glauben zu träumen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 65-66.
  • Qiang cun (2) "Wan sui po tou sheng" 羌村(其二)“晚歲迫偷生”: Im Dorfe Kiang, II. (Du Fu 杜甫)
    Erst am Neujahrstage war es mir gelungen, den Staatsgeschäften auf ein Weilchen zu entfliehen. Da bin ich nach der Heimat geeilt, um ein paar glückliche Stunden im Schoße meiner Familie zu verleben. Meine süßen Kinder gehn mir nicht von den Knien, Sie fürchten, ich möchte sie zu bald wieder verlassen. Sonst hab' ich so gern am kühlen Weiher dort Erfrischung gesucht von des Sommers Gluten, Wohlig gelagert unter den hohen Bäumen, die seine Ufer umkränzen; Heut braust der Nordwind heulend durch die Luft, Heut bestürmen tausend Sorgen mein Herz mit Kummer und Furcht. Die gekochten Körner haben Zeit gehabt, im Faß zu gären, Der Duft, den ihr Saft verbreitet, zeigt, daß die Hefe sich vom Wein geschieden hat. So zieht ihn ab, den feurigen Trank, Er helfe mir die rauhe Jahreszeit ertragen!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 66-67.
  • Qiang cun (3) "Qun ji zheng luan jiao" 羌村(其三)“群雞正亂叫”: Im Dorfe Kiang, III. (Du Fu 杜甫)
    Das Hühnervolk kräht und gackert auf dem Hofe, Jetzt wächst sein Geschrei und kündet mir ängstlich das Nahen von Besuchern. Man jagt die Vögel weg, sie fliehen hinaus unter die Bäume Und draußen hört man sie an das Holztor picken. Es sind die Ältesten der Gegend, Die kommen und von meinen weiten Fahrten hören wollen. Jeder von ihnen bringt mir einen Becher Wein, Der eine trüben und der andere klaren. Der Wein ist schwach, so sprechen sie traurig, Denn wir haben niemand mehr, der unser fruchtbares Land bestellt. Weh, nimmt das Elend dieses Kriegs kein Ende? All unsre Söhne hat man uns weggeführt!... Ihr Greise, euer Kummer geht mir nah, Ich will zum Dank für euere Gaben ein Lied euch singen! – Ich war zu Ende. Doch noch immer saßen still die Greise, lauschend, Den Blick zum Himmel aufgeschlagen, die Brust geschwellt von Seufzern und die Augen voller Tränen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 67-68.
  • Qing ping diao ci san shou (1) "Yun xiang yi shang hua xiang rong" 清平調詞三首(其一)“雲想衣裳花想容”: Improvisation vor Kaiser Ming-hoang-Ti und seiner Favoritin Tai-Tsun, I. (Li Bai 李白)
    Sieht er Wolken, denkt er an ihr Kleid; sieht er Blumen, denkt er an ihr Antlitz. Der Liebeshauch des Frühlings wogt auf dem Blütenschmuck, der reich mit Tau beperlt die von Wohlgerüchen umwehte Balustrade kränzt. Sieht er sie nicht auf dem Yu-chan-Berge, So findet er sie im Yao-Tai-Turme unter den Strahlen des Mondes.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 47f.
  • Qing ping diao ci san shou (2) "Yi zhi hong yan lu ning xiang" 清平調詞三首(其二)“一枝紅艷露凝香”: Improvisation vor Kaiser Ming-hoang-Ti und seiner Favoritin Tai-Tsun, II. (Li Bai 李白)
    Ein Zweig voller Blüten duftet noch süßer, wenn der Tau ihn netzt. Die Fee der Wolken und des Regens wird hier nicht vermißt. Welche Erinnerung könnte wohl in diesem Palast mit der Wirklichkeit sich messen? Die bezaubernde Fen-nen vielleicht, doch erst im Gewand einer Kaiserin.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 48.
  • Qing ping diao ci san shou (3) "Ming hua qing guo liang xiang huan" 清平調詞三首(其三)“名花傾國兩相歡”: Improvisation vor Kaiser Ming-hoang-Ti und seiner Favoritin Tai-Tsun, III. (Li Bai 李白)
    Die herrlichste der Blumen und die schönste der Frauen, so allgewaltig schön, daß sie ein Königreich zu stürzen vermöchte, verbünden sich, um alle Augen zu bezaubern; Sie machen, daß ein glückliches Lächeln nie von einem erhabenen Antlitz schwindet. Wenn der Frühling vergeht, was tut das ihr, Ihr die sich auf der Nordseite lehnt an die von Wohlgerüchen umwehte Balustrade!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 48.
  • Qiu xing ba shou (1) "Yu lu diao shang feng shu lin" 秋興八首(其一)“玉露凋傷楓樹林”: Herbstgesänge, I. (Du Fu 杜甫)
    Es fallen die Blätter vom Herbst gewellt, Kalt zieht der Wind durch das Vu-chan-Tal, in den Wäldern heulend und rauschend. Unendlich wächst der Strom, seine Wogen stürmen und türmen sich, als wollten sie zum Himmel steigen. Die Wolken vom Gebirge wallen hernieder und ballen sich mit den Nebeln der Steppen zusammen. Heut blühen die Chrysanthemen, morgen werden die letzten Blumen die Köpfe senken. Ich bin wie ein gebrechlicher Nachen, den eine Kette fest am Ufer hält, nur meine Gedanken finden den Weg zurück in die Heimat. Rings um mich her bereitet man warme Kleider für den Winter, der mit Macht hereinbricht, Und vom Tale herauf tönt das eifrige Klopfen der Wäscherinnen, die ihre Arbeit noch eilig vor der raschen Flucht des Tages vollenden wollen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 76.
  • Qiu xing ba shou (2) "Kui fu gu cheng luo ri xie" 秋興八首(其二)“夔府孤城落日斜”: Herbstgesänge, II. (Du Fu 杜甫)
    Hoch auf dem Festungsturm des einsam in die Wolken ragenden Pe-ti-Berges, wenn die Sonne am Horizont verschwunden, Hab' ich oft an den Sternen die Richtung nach Tschang-ngan, unserer herrlichen Hauptstadt gesucht, Das Ohr und das Herz gepeinigt von den gellenden Klagelauten der Affen. Und in eitler Erwartung unverhoffter Heimkehr mich verzehrt. Einst stand ich in hoher Gunst und lebte in einem Palast mit reichem Schmuck von Künstlerhand; Weihrauch duftete, wo ich vorüberging, und ich schlief auf seidigen Matten. Jetzt steh' ich hinter den kahlen Zinnen der Felsenburg, wo die Schildwachen mit schrillen Pfiffen Signale wechseln. Wie im Traume blicke ich auf das wilde Gestrüpp an den Felsen, die grell der Mond erhellt, Und unten im Halblicht, das sie widerstrahlen, dämmern die sandigen Inseln hervor aus dem Strom mit dem herbstlich blühenden Schilfrohr.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 77.
  • Qiu xing ba shou (3) "Qian jia shan guo jing zhao hui" 秋興八首(其三)“千家山郭靜朝暉”: Herbstgesänge, III. (Du Fu 杜甫)
    Dumpfe Grille lastet früh und spät über der dünn bevölkerten Stadt in dem abgeschlossenen Berglande. Wo ich auch meinen Ruheplatz wähle, immer umgeben mich Nebel und Wolken. Die Nacht von heute gleicht der Nacht von gestern; stets kommen die Fischer im Kahn, um stets die gleiche Arbeit zu verrichten. Und nun fliegen die Schwalben herbei in Schwärmen – sie sind glücklich, sie ziehen frei in die Weite. Ich habe die Pflicht meines Amtes erfüllt wie Quang-Heng; doch er erwarb sich großen Ruhm – mich traf die Verbannung. Dem Vorbild Lieu-Hangs, der der Nachwelt Schätze der Gelehrsamkeit hinterließ, vermag ich nicht zu folgen. Ich denke meiner Studiengenossen und Jugendfreunde, die zu Glück und Ehren gekommen sind: Wie viele unter ihnen taten nie mehr als schöne Kleider und stolze Rosse auf den fünf Hügeln von Tschang-ngan dem staunenden Volke zeigen!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 78.
  • Qiu xing ba shou (4) "Wen dao chang an si yi qi" 秋興八首(其四)“問道長安似奕棋”: Herbstgesänge, IV. (Du Fu 杜甫)
    In Tschang-nan scheint man noch immer die alten Spiele zu spielen. Was für traurige, kaum zu ertragende Dinge sind in den letzten Jahren geschehen; Doch in den Palästen der Fürsten und Großen wechseln die Günstlinge in rascher Folge, wie immer, Nur die Mützen und Hofgewänder haben sich gewaltig verändert. Die Gebirge der Nordgrenze hallen wider von Trommeln und Becken. Im Westen sind alle Straßen voller Reiter und Kriegswagen, selbst die kaiserlichen Eilboten finden den Weg versperrt. Hier herrscht ein eisesstarres Schweigen; bald kommt der Winter und auch die Fische ziehen sich tief in ihre Schlupfwinkel zurück. O mein Heimatland, o ihr vergangenen Tage stillen Glückes – wie viel Zeit habe ich, euer zu gedenken!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 79.
  • Qiu xing ba shou (5) "Peng lai gong que dui nan shan" 秋興八首(其五)“蓬萊宮闕對南山”: Herbstgesänge, V. (Du Fu 杜甫)
    Vor allem gedenk' ich des Palastes von Pong-laï gegenüber dem Nan-chan-Berge, Wo die kostbare Vase auf goldener Säule bis zu den Wolken sich erhob, den Tau des Himmels aufzufangen. Im Westen des Hauses sieht man den Yao-See, zu dessen Ufern die königliche Mutter des Westens herniederstieg, Im Osten das Han-kuan-Tor, wo einstmals feurige Nebel die Ankunft Lao-tses verkündeten. Noch immer seh ich im Geist die Fasanenwedel fächeln, leichten Wölkchen gleich, Und ein erhabenes Antlitz näher schweben und goldene Drachenschuppen in der Sonne glänzen. Das alles habe ich hingegeben für ein wüstes Land und sehe nun hier den Abend meines Lebens nahen. Wie lang ist's her, daß ich an der himmelblauen Pforte saß und die Reihenfolge der Audienzen bestimmte!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 79-80.
  • Qiu xing ba shou (6) "Qu tang xia kou qu jiang tou" 秋興八首(其六)“瞿塘峽口曲江頭”: Herbstgesänge, VI. (Du Fu 杜甫)
    Von den Klüften dieser Berge bis zu der Quelle des Kio Ziehn sich die Nebel, die den letzten schönen Herbsttagen folgen. Nun hüllen sie auch das reizende Luftschloß Hoa-ngo, das einst Kaiser Ming-hoang-ti besuchte, mit ihrem Schleier Und den kleinen Park von Hu-yung, wo ihn zuerst die Unheilsbotschaften von der Grenze erreichten. Und die perlengestickten Zelte, die feingeschnitzten Säulen, die Gehege für seltene Tiere, Und die Dschunke mit dem Elfenbeinmast und den Segeln aus geblümter Seide, die auf dem klaren Wasserspiegel weiße Vögel aufscheuchte... O schmerzlich süßes Heimweh nach dem Land, das aller Herrlichkeiten voll, Nach Tschang-ngan, unserer Kaiser Sitz von alters her!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 80-81.
  • Qiu xing ba shou (7) "Kun ming chi shui han shi gong" 秋興八首(其七)“昆明池水漢時功”: Herbstgesänge, VII. (Du Fu 杜甫)
    Nicht weit von dort seh ich auch den Quen-Ming-See, ein Werk aus der Zeit der Kaiser von Han, Wo Wu-Tis Standarten im Winde wehten, Wo die himmlische Weberin in stillen Nächten müßig steht, Wo der steinerne Riesenwal brüllend die Flossen rührt und das Nahen des Herbstwinds verkündigt. Jetzt sind die schwellenden Wogen wie mit einem schwarzen Schleier bedeckt von den ausgefallenen Körnern des Wasserreis, Zwischen denen die roten Blätter der Lotosblüten schwimmen, die der erste Frost den Kelchen entrissen hat. Ich aber, getrennt von den geliebten Stätten durch unnahbare Berge, Bin allein mit meinen Gedanken wie ein alter Fischersmann, der traurig an dem über seine Ufer steigenden Flusse sitzt.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 81-82.
  • Qiu xing ba shou (8) "Kun wu yu su zi wei yi" 秋興八首(其八)“昆吾御宿自逶迤”: Herbstgesänge, VIII. (Du Fu 杜甫)
    Wie könnte ich je die reizenden Hügel von Kuan vergessen, die einst ein Lieblingsaufenthalt Kaiser Wu-Tis waren, Wo die blauen Pics des Tschong-nan -Gebirges sich spiegeln im Mei-Pei-See! Wo köstlicher Reis in solcher Fülle wuchs, daß man den Vögeln einen Teil von der Ernte ließ, Und der Phönix in den riesigen Bäumen nistete ohne je des Aufenthalts müde zu werden. Schöne Mädchen kamen im Frühling, mit uns zu scherzen und spielen am Seegestade. Die Unsterblichen waren meine Freunde, den Tag verbrachten wir mit Luftfahrten auf dem See, den Abend mit anderen Genüssen; Mein froher Sang war schon zu dem Ohr meines Herrn und Kaisers gedrungen – Jetzt hab' ich nur noch die Trauerweisen und mein ergrautes Haupt ist vom Schmerz gebeugt.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 82-83.
  • Shi hao li 石壕吏: Der Rekrutenjäger (Du Fu 杜甫)
    Als die Sonne sank, ging ich ein Nachtlager suchen im Dorfe Che-kao. Zugleich mit mir kam ein Rekrutenwerber, solch einer, der bei Nacht auf Männer fahndet. Ein alter Mann, vor einem Hause, sieht ihn nahen, steigt über die Mauer und flieht; Eine alte Frau kommt aus dem Hause und geht stracks auf den Werber zu. Der Werber schreit – mit welcher Wut, Die Alte klagt – mit welcher Bitterkeit! Sie sagt: "Höret die Stimme derer, die vor euch steht: Drei Söhne hatte ich, sie waren alle drei im Heer des Kaisers. Der eine hat mir einen Brief gesandt, Die beiden anderen sind in der Schlacht gefallen, Dem ersten droht von Tag zu Tag der Tod, Der beiden andern Schicksal, ach, es ist bereits entschieden! In unserem elenden Hause ist kein einziger Mann verbleiben, Es sei denn mein Enkel, ein Kind an der Mutter Brust. Die Mutter, sie ist nicht geflohen, Weil sie nicht einmal die Kleider besitzt, ihre Blöße zu decken. Ich bin ganz alt, meine Kräfte sind schwach. Dennoch will euch folgen und mit zum Heere gehn. Vielleicht kann ich doch noch manche nützlichen Dienste tun, Reis kochen und den Soldaten das Frühmahl bereiten." Die Nacht verging, die Worte und Schreie waren verstummt. Dann hörte ich Weinen und halb erstickte Klagen. Bei Tagesanbruch zog ich weiter fort – Im Hause einsam bleibt zurück ein verzweifelter Greis.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 61.
  • Song bie "Xia ma yin jun jiu" 送別 “下馬飲君酒”: Abschied von einem Freunde (Wang Wei 王維)
    Ich stieg vom Pferd, bot ihm den Abschiedstrunk Und fragte ihn nach dem Ziel und Zweck seiner Fahrt. Er sprach: Ich hatte kein Glück in der Welt Und ziehe mich nach meinen San-chan-Bergen zurück, um Ruhe dort zu finden. Ich werde nicht mehr in die Ferne schweifen, Denn die Natur ist immer dieselbe, und ewig sind die weißen Wolken.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 17f.
  • Xia ke xing 俠客行: Der Mann der Tat (Li Bai 李白)
    Der kühne Abenteurer von Tschao knüpft seinen Helm mit grobem Stricke fest, Aber sein Wu-Schwert ist glatt wie Eis und blinkt wie Schnee. Ein silberbestickter Sattel glitzert auf seinem weißen Rosse Und wenn er mit Sturmesgewalt vorüberjagt, entschwindet er dem Auge wie ein Meteor. Auf zehn Schritt hat er seinen Mann schon getötet, Hundert Meilen hemmen nicht seinen Lauf. Nach dem Kampfe schüttelt er nur die Kleider, und schon ist er wieder auf und davon. Seinen Namen und seine Spur hält er gerne verborgen. In einer Mußestunde geht er wohl, einen guten Trunk zu tun, zum Prinzen Sin-Ling, Nimmt seinen Gäbel ab und legt ihn über die Knie. Der Prinz ist nicht zu stolz, Tschü-Haïs Mahl zu teilen Und Heu-Hing einen Becher mit Wein zu füllen. Drei Becher Wein auf ein Bündnis getrunken gelten ihm als Bürgschaft unerschütterlicher Treue; Die heiligen fünf Berge stehen nicht fester als sein Manneswort Wenn die Ohren ihm heiß werden und der Wein ihm das Auge zu trüben beginnt, Scheint keine Laune seinem Ungetüm zu toll, er möchte einen Regenbogen umarmen... Ein Hammer genügt ihm, ein Königreich zu retten. Der Klang seines Namens allein tönt schreckenerregend wie Donnerhall. Und seit tausend Jahren leben die beiden Gewaltigen Mit unvermindertem Glanz in der Erinnerung des Volkes von Ta-leang weiter. Um das Grabmal des Abenteurers schwebt noch immer Weihrauchduft. Beschämt das nicht den Bücherwurm, der nur dem Studium lebt? Wer könnte solchen Ruhm erwerben, am Fenster sitzend über die Arbeit gebeugt, Über den Büchern ergrauend wie der Beschaffer des Taï-Yun-King.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 35f.
  • Xia ri nan ting huai xin da 夏日南亭懷辛大: Abend (Meng Haoran 孟浩然)
    (Mong-Kao-Jen erwartet seinen Freund den Dichter Ting-Kong am Yin-chy-Berge.) Die Sonne sinkt und verschwindet hinter den hohen Bergen; Die Täler verlieren sich in den Schatten des Abends; Der Mond steigt auf zwischen den Fichten und bringt erfrischende Kühle mit, Der Wind weht und das Rauschen des Baches erfüllt meine Ohren mit lauterem Klang. Der Holzhauer sucht sein Lager auf, um neue Kräfte zu gewinnen, Der Vogel wählt seinen Zweig und sitzt in regungsloser Ruhe. Ein Freund hatte mir versprochen zu kommen und an dieser Stelle mit mir die Schönheit der Nacht zu genießen. Ich nehme meine Laute und wandle einsam ihn zu erwarten auf grasbedecktem Pfade.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 19.
  • Xia ri nan ting huai xin da 夏日南亭懷辛大: Schöne Nacht. Aus der Sammlung Thang-Schi-Yie-Tsai (Meng Haoran 孟浩然)
    Am Bergesgipfel sinkt rasch das strahlende Tagesgestirn gen Westen zu, Aus dem feuchten Tale steigt langsam der Mond im Osten auf. Mit unbedecktem Haupt lenk ich mein Pferd durch die wohlige Kühle der Nacht; Ich schlage das Dach meines Wagens zurück und mache Halt und schaue mich um. Ein sanfter Wind trägt mir einen Lufthauch von Düften zu, Der Tau perlt auf dem Bambus; ein klares Echo wiederholt die Töne. Ach hätte ich meine Laute bei mir! Wie drängt es mich, den Stimmen der Nacht zu antworten; Denn so kann der Mensch, wenn das Herz ihm voll ist, Im Dunkel der Nacht seine träumende Sehnsucht stillen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 93.
  • Xia zhong nan shan guo hu si shan ren su zhi jiu 下終南山過斛斯山人宿置酒: Das Landhaus (Li Bai 李白)
    Wenn der Abend hereinbricht, steige ich von den bläulich verschwimmenden Bergen hernieder, Der Mond scheint vom Gebirge her dem Wanderer zu folgen und das Geleit zu geben. Und wenn der sich umwendet, den Raum, den er durchschritt, zu sehen, Verliert sein Blick sich in den Nebeln der Nacht. Hand in Hand kommen wir vor ländliche Wohnung. Ein junger Bursch öffnet uns ein aus Zweigen geflochtenes Gatter. Wir schreiten durch einen engen Pfad, geheimnisvoll umschattet von lichtbelaubtem Bambus. Die hohen grünen Gräser rascheln lustig an der Seide unserer Kleider. Ich jauchze vor Freude, mein Prinz, mich in einem so reizenden Zufluchtsort mit Euch vereint zu sehn. Wir gießen einander Wein von herrlichem Duft in die Becher ein. Ich singe, singe das Lied von dem Wind, der durch die Fichten braust, Und meine Begeisterung erschöpft sich erst, da der Schein der Milchstraße erlischt. Ich bin berauscht und das erhöht noch eure Fröhlichkeit, mein Prinz, Wir schwelgen in der Wonne, die nüchterne Wirklichkeit des Alltagslebens zu vergessen.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 45f.
  • Xin hun bie 新婚別: Die Neuvermählte (Du Fu 杜甫)
    Es gibt Pflanzen, die müssen sich an andere Pflanzen klammern, Sie bedürfen der Stütze, um sich zu entwickeln. Doch eine Tochter groß ziehen, um sie dann einem Kriegsmann als Weib zu geben – Besser wär's, sie gleich nach der Geburt auf die Straße zu werfen! Ich habe meine Haare geschmückt mit Organgenblüten, Doch unser Hochzeitslager hatte kaum die Zeit zu erwarmen. Als die Sonne sank, ward ich deine Frau, als der Morgen dämmerte, mußten wir uns trennen! Du bist nicht weit in die Fremde gezogen, Doch die Wacht an der Grenze hält dich mir, ach, so fern. Wir sind geschieden, ohne auch nur alle Hochzeitsbräuche erfüllen zu können, Und ich muß mich schämen, deinen Eltern vor Augen zu treten! Als ich noch bei Vater und Mutter lebte, War ich allezeit bedacht, mich den Blicken der Welt zu entziehen; Jetzt da ich das Elternhaus verlassen habe, Sollte ich vor aller Augen die Pflichten meines neuen Standes erfüllen. Tag für Tag schwebst du zwischen Leben und Tod, Tiefe Angst bedrückt mir Herz und Nieren! Erst wollt ich dir folgen, mich an deine Schritte heften, Doch meine Begleitung hätte deine Unruhe, deine Sorgen nur noch erhöht. Denk nicht zu oft an deine junge Frau, Du darfst nicht andere Gedanken haben, als ein wackrer Soldat. Wenn deine Gattin bei dir wäre mitten im Heere, Dein Mut könnte, fücht' ich, wanken! Ich armes Mädchen, wie bin ich zu beklagen! So lange habe ich mich gemüht, ein feines Linnenkleid zu weben; nun wird es meine Schultern nicht bedecken; Ich verschmähe den Putz und die leuchtenden Farben der Schminke. Wenn ich die Augen erhebe, seh ich die Vögel durch die Luft ziehn, Groß und klein, doch immer fliegen sie zu zweien. Doch ach, die Sitten der Menschen gleichen nicht denen der Vögel in den Lüften – Wer weiß, o mein Gemahl, wann unsere Blicke sich wieder begegnen werden!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 62-65.
  • Xing xing you qie lie pian 行行遊且獵篇: Zu Roß, zu Roß, zur Jagd! (Li Bai 李白)
    Der wackre Sohn des Grenzlandes Nimmt sein Leben lang kein Buch zur Hand; Doch er ist ein Jäger, behende, stark und kühn. Sein Renner strotzt vor Kraft, das üppige Steppengras im Herbste bietet ihm starke Kost; Wie jagt er auf ihm dahin mit Windeseile, der eigene Schatten kann ihm nicht folgen! Wie stolz und herrlich blickt er drein! Seine knallende Peitsche berührt den Schnee, oder sie ruht in ihrer goldenen Scheide. Nach einem Trunke feurigen Weins ruft er seinen Falken und zieht in Wald und Feld hinaus. Wenn sein Bogen, mit Macht gespannt, sich rundet, trifft er nie ins Leere. Oft fallen zwei Vögel zugleich von einem Pfeil durchbohrt. Kommt er zur Küste, wagt keiner ihm in den Weg zu treten, Seine Kraft und sein streitbarer Zorn sind bekannt bis in die Wüste Gobi. Wie anders dieser Hieh-k-ho als unsere gelehrten Stubenhocker, Die über den Büchern grau werden hinter ängstlich geschlossenen Fenstern In unfruchtbarer Mühe!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 37f.
  • Xiong zhai 凶宅: Die Unglückshäuser (Bai Juyi 白居易)
    In Tschang=an stehen viele große Häuser. In langen Reihen ziehen sie sich nach Westen und nach Osten, Nach Norden und nach Süden, überall unnerhalb der hellroten Tore. In den Gemächern und Gängen überall gähnt die Leere. Die Eule schreit auf der Fichten, auf der Zimmetbäume Zweigen, Der Fuchs verbirgt sich in den Büschen von Luftpflanzen und Goldblumen. Grünes Moos, verwelkte Blätter bedecken die Erde, Nur der Wirbelwind, der am Abend auflebt, stört ihre Todesruhe. In alter Zeit geboten hier die Häuptlinge eingeborener Stämme und ihre Mannen; Sie taten übles und mußten fliehen nach Pa=Bung. Dann zogen Reiter und Diener des Reichs hier ein, Doch Rot und Krankheit kam über sie, sie gingen zugrunde, verdarben, starben, So erbte sich das Unglück weiter von Geschlecht zu Geschlecht Und nistete sich hier ein. Seit zehn Jahren Dienen die Unglückshäuser keinem als Wohnung mehr. Wind und Regen zerstören des Vordachs Zwischenraum, Schlangen und Mäuse durchwühlen die Wände. Die Menschen wagen nicht, in ihnen ihre Heimstätte aufzuschlagen, Mehr und mehr verfallen Holz und Mauerwert. O wie beklagenswert ist der niedrige Sinn des Volkes, Wie groß seine Unwissenheit, sein dumpfer Unverstand. Es fürchtet nur die Unheil drohenden Gewalten des Himmels, Es bedenkt nicht, woraus das Unheil erwächst. Ich will in tiefem Gedichte Wecken der Irrenden Erkenntnis! Wer zu einem hohen Amte berufen ist, Mit großem Glanz und reichen Einkünften, hat Mühe, sich Macht und Einfluß dauernd zu behaupten. Je höher er steht, desto tiefer droht ihm unablässig der Fall. Der Stolz und der Übermut, Das Alter und die Vergänglichkeit, Sie gleichen dem Räuber, Der Tag und Nacht uns bedroht. Und wohntest du im Lande des Glücks, Wie könntest du dein Selbst bewahren?! Wie das kleine, so ist das Große, Wie das Haus, so das ganze Reich. Die Häuser von Tscheu und Thsin, in Hiao und Han, Sie waren gleich den Häusern von Tschang=an: Das eine stand 800 Jahre lang, Das andre starb in Wang=Is Palast. So gilt dasselbe Wort von Haus und Reich: Die Menschen sind unglücklich, die Häuser nicht!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 84 - 87.
  • Xu gu shi shi shou (2) "Yan lei bie xiang li" 續古詩十首(其二) "掩涙别鄊里": Das Grab am Wege (Bai Juyi 白居易)
    Die Tränen verbergend scheide ich aus meinem Dorf, Durch Wind und Wetter muß ich in die Fremde wandern! Weit und breit dehnt grüne Wildnis sich vor mir, Und der Frühling ist verdüstert wie des Heimatlosen Seele. Hurtig trabt mein Roß über die Hügel, Über Berg und Tal führt der rauhe Weg. Der Wind bläst durch die weißen Birnblüten, Und horch, eines Vogels Klageruf dringt durch die Einsamkeit. Das Grab am Wege – niemand kennt sein Alter, Niemand den Namen dessen, der in ihm liegt; Den verfallenen Hügel, der fast dem Erdboden gleich, Schmückt alljährlich der Lenz mit neuen Blumen. Ich bin bewegt, und plötzlich denk ich dran: Was für ein Haus bau ich jetzt mir?

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 87-88.
  • Xuan zhou xie tiao lou jian bie jiao shu shu yun 宣州謝朓樓餞別校書叔雲: An einen Freund, der auf eine lange Reise ging (Li Bai 李白)
    Das Gestern, das mir entflieht, kann ich nicht halten, Das Heute, das mir das Herz bedrückt, nicht von der Kummerslast befrein; Schon nahen die Wandervögel in zahlreichen Schwärmen, die uns der Herbstwind wiederbringt, Ich will zur Warte steigen, meinen Becher füllen und in die Ferne schauen. Ich denke an die großen Dichter der vergangenen Zeiten Und lese mit Entzücken ihre Verse voll Unmut und Kraft. Auch ich fühle in mir ein heiliges Feuer, die Begeisterung will mächtig ihre Schwingen regen. Doch um jene Erhabenen zu erreichen, müßte man sich bis zum Himmel erheben und den Sternen nahn. Wer kann den Wasserstrahl mit dem Schwert zertrennen; Wer vermöchte im Wein seinen Gram zu ertränken! Der Mensch, der in diesem Leben zwischen Sehnsucht und Erfüllung schwebt, Kann nichts tun als sich in den Nachen werfen und, das Haar im Winde flatternd, der Willkür der Elemente ergeben.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 29f.
  • Ye wen ge zhe 夜聞歌者: Die Fremde (Bai Juyi 白居易)
    In der Herbstnacht ankerten wir an der Insel der Papageien. Über dem rauschenden Fluß leuchtete hell und rein der Mond. Am Nachbarschiff hörten wir eine Stimme singen. Weit hallten die Töne, todestraurig, Dann erstickten sie, wurden zum Weinen, Herzbrechenden Weinen, und erstarben. Wir gingen der Stimme nach und fanden den Sänger. Es war ein Weib, ihr Antlitz bleich wie Schnee. Einsam stand sie an den Mastbaum gelehnt, Schön und lieblich anzusehn in ihrer Jugend Frische. In der hellen Nacht blinkten ihre Tränen wie echte Perlen, Paarweise tropfend im glänzenden Mondenschein. Man fragte sie, woher sie stamme, Warum ihr Gesang und Weinen so voll Weh ... Man fragte nochmals ... und sie weinte wieder ... Senkte die Augen und ... sprach kein Wort --

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 88-89.
  • Ye yan zuo shi zhuang 夜宴左氏莊: Die Dichter (Du Fu 杜甫)
    Der Wind rauscht leise durch die Blätter; der junge Mond ist schon zur Ruhe gegangen; Der Tau verbreitet wohlige Kühle – laßt uns die Saiten stimmen zu reinem Klange. Die Bäche gleiten sacht im Dunkeln dahin und küssen die Blumen am Ufer. Die Gestirne breiten stumm über unseren Häuptern einen glitzernden Baldachin. Der göttliche Rausch begeistert den Dichter: die Verse strömen ihm aus dem Pinsel, Er fürchtet nur, die Fackeln könnten verlöschen, eh er sie auf Papier geschrieben! Auf sein breites Schwert blickt jeder und schreibt noch eifriger weiter, Die Becher leeren und füllen sich bis tief in die Nacht. Da tönt die Weise des Abschiedsliedes. Man singt, was man gedichtet hat. Dann steigt ein jeder in seinen Kahn und nimmt eine unvergägnliche Erinnerung heim.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 72.
  • Yu hua gong 玉華宮: Die Ruine (Du Fu 杜甫)
    Aufschäumend rauscht der herbstlich angeschwollene Bach, der Wind braust durch die Fichten. Graue Ratten, erschreckt von meinem Nahen, verkriechen sich unter verwittertes Gemäuer. Wer wüsste heut zu sagen, welcher Fürst es war, der einstmals den Palast erbaute, Von welchem nur noch diese Ruinen am Fuße des schroffen Spitzberges hinterblieben sind. Wie bläulich düstre Flammen siehst du hier Geister in den dunklen Verließen. Auf der verfallenen Straße hörest du geheimnisvolle Klagelaute; Mit den Stimmen des Waldes und der Luft vereinigen sie sich zu wunderlicher Harmonie, Und der beginnende Herbst erhöht die schwermütige Stimmung des Bildes. Einst wohnten hier die Schönen des königlichen Hofstaats; Staub und Asche ist alles, was von ihnen übrig blieb. Und von den künstlichen Reizen ihrer holden Wangen. Um den goldenen Wagen ihres Gebieters drängten sich die getreuen Wachen, Und von all dieser Herrlichkeit zeugt allein noch das steinerne Pferd auf dem Grabmal des Fürsten. Ich sitze im hohen Grase und tiefe Wehmut sinkt mir auf das Herz, Ich beginne ein Lied, das meine Traurigkeit erhöht, mein Weinen wird zum Schluchzen. Ach, auf dem Weg des Lebens, den wir alle gehen, Wer weiß, wie nahe wir dem Ziel!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. Vol. 1, p. 73-74.
  • Yu jie yuan 玉階怨: Die Treppe von Jade (Li Bai 李白)
    Die Treppe von Jade glitzert im Vollmond über und über von Tau. Langsam steigt die Kaiserin sie hinab und läßt die Schleppe ihres fürstlichen Gewandes sich mit den funkelnden Tropfen benetzen. Auf der Schwelle des Pavillons, der ganz vom Mondlicht erfüllt ist, bleibt sie geblendet stehen; dann zieht sie den Vorhang aus Kristallperlen nieder, der herabsinkt wie ein Wasserfall, durch den man die Sonne sieht. Und während das kristallene Klingen verrieselt, betrachtet sie, wehmütig und träumend, lange, lange den herbstlichen Mond, der durch die Perlen gleißt.

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 49f.
  • Yue xia du zhuo si shou (1) "Hua jian yi hu jiu" 月下獨酌四首(其一)“花間一壺酒”: Die drei Gesellen (Li Bai 李白)
    In der Blütenlaube sitz ich beim Weine Und hätte gern einen guten Gesellen. Da kommt der Mond, grüßt mich mit leuchtendem Schein, Und mein Schatten tut, als wär er der Dritte im Bunde. Der Mond kann nicht mit trinken, Und mein Schatten macht nur meine Bewegungen nach. Aber ich will doch ihre Freundschaft mir leihen Und zechen und fröhlich sein, so lange der Frühling blüht. Seht den Mond, wie er lacht zu meinem Gesang, Seht meinen Schatten, wie er tanzt und springt. So lange ich noch bei Sinnen bin, bleibt ihr beiden mir treu, Aber wenn der Rausch meiner Herr wird, ist's mit der Freundschaft aus. Dann trennen wir uns ohne Lebewohl, Doch am nächsten Abend feiern wir ein fröhliches Wiedersehn!

    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 46f.
  • Zhou fan dong ting 舟泛洞庭: Auf dem Flusse Tschu (Du Fu 杜甫)
    in: Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, Die Fruchtschale. München, Leipzig: R. Piper & Co., 1905. p. 74.
    Rasch treibt mein Schiff durch die Fluten, mein Blick ruht auf dem Wasser. Droben am weiten Himmel wandern die Wolken. Auch der Himmel ist in der Flut; wenn eine Wolke am Mond vorüberschwebt, seh ich sie im Wasser dahinziehen. Und ich wähne, mein Schiff gleitet über den Himmel. Dann denke ich, daß auch meine Geliebte sich also in meinem Herzen spiegelt.